PIERRE CROCQUET
PINKY PROMISE
„Ein Pinky Promise ist, wenn du zu einem Freund sprichst und sagst, bitte erzähl mir alles und ich verspreche bei meinem kleinen Finger (engl. pinky), dass ich es niemandem weitersage. Es ist ein großes Versprechen (...) und du würdest es niemals brechen. Du sagst „pinky promise“ und hakst deinen kleinen Finger bei dem deines Freundes (Freundin) ein. Mein Vater hakte seinen kleinen Finger bei meinem ein und ich sagte es niemandem weiter.“ (Hayley, 14)
Pinky Promise ist das eindrucksvolle und nachdenklich stimmende Projekt des Fotografen Pierre Crocquet über den sexuellen Missbrauch an Kindern in Südafrika. Erstmalig im Jahr 2012 in Deutschland ausgestellt, werden seine Fotografien, fast 11 Jahre nach seinem Tod, erneut in der Galerie Seippel in Köln präsentiert.
Dieses außergewöhnliche Projekt, das vom gleichnamigen bei HatjeCantz erschienenen Buch begleitet wird, war das Ergebnis dreier intensiver Jahre der Annäherung, des Fotografierens und unzähliger persönlicher Interviews mit den an dem Projekt beteiligten Opfern, Tätern, Familienangehörigen, Kriminalbeamten, Ärzten und Therapeuten.
Mit großer Sensibilität und dem Versuch größtmöglicher Unvoreingenommenheit werden acht ganz unterschiedliche Geschichten von fünf Opfern, aber auch drei Tätern vorgestellt. Sie alle erzählen von sexuellem Missbrauch, den Wunden und Traumata der Opfer wie Täter sowie den Umständen, welche letztlich auch zu einer möglichen langsamen „Heilung“ dieser Wunden beitragen können.
Die eindringlichen und einfühlsamen Schwarzweißfotografien Crocquets werden dabei ergänzt durch zahlreiche Briefe, Familienfotos, Tagebucheinträge und ähnlicher Dokumente aus dem Leben der portraitierten Personen. Ohne zu werten, setzte er sich mit seinen Fotografien mit den Geschichten der Opfer und Täter auseinander. Die Erinnerungen offenbaren Trauma und Heilung auf beiden Seiten. Opfer wie Täter teilen ein Geheimnis - durch das erzwungene Versprechen zu schweigen, symbolisiert im gegenseitigen Überkreuzen der kleinen Finger: Pinky Promise. Der Akt des Missbrauchs kristallisiert zur Vergangenheit, die nicht vergehen darf, sondern ewig währen muss. So erscheinen Pierres gegenwärtige Szenen in schwarz-weiß, während die persönlichen Dokumente wie etwa Familienalben in lebendiger Farbigkeit aufleuchten.
„Ich hoffe, dass Pinky Promise das Trauma des sexuellen Missbrauchs in der Kindheit und die Bedingungen, unter denen Heilung möglich ist, näher beleuchten wird.“ (Pierre Crocquet)
Während des gesamten Projekts stand Pierre Crocquet im engen Kontakt zu Experten, die seit langem mit Opfern von sexuellem Kindesmissbrauch bzw. Tätern arbeiteten. Diese Experten haben Pierre Crocquet auch mit juristischem und ethischem Rat unterstützt. Dabei war ihm jederzeit bewusst, dass er sich als „Fachfremder“ auf äußerst schwieriges Gebiet begibt. Pinky Promise beansprucht folglich nicht für sich, dazu geeignet zu sein, das Phänomen des Kindesmissbrauchs umfassend oder gar abschließend beschreiben zu können. Vielmehr ist es dem Fotografen ein Anliegen, anhand der vorgestellten Geschichten ein größeres Bewusstsein für dieses komplexe gesellschaftliche wie globale Problem zu schaffen, welches in manchen Teilen der Welt wahrhaft epidemische Ausmaße annimmt. Mit dieser Ausstellung wollte Pierre Crocquet auch ein Bewusstsein zur Sicherung der Rechte der Kinder auf Unversehrtheit und eine gewaltfreie Privatsphäre schaffen.
"Ich glaube, die Wahrheit ist bei jedem Thema sehr schwer - oder gar unmöglich – herauszubekommen. Ich wollte also ein Gefühl dafür vermitteln. Dazu musste ich sowohl die Opfer von Missbrauch als auch die Täter einbeziehen.“ (Pierre Crocquet)
Pierre Crocquet wurde 1971 in Kapstadt geboren, wuchs jedoch in einer Kleinstadt westlich Johannesburgs auf. Nach seinem Studium in Kapstadt ging er beruflich nach London, wo er am London College of Printing Fotografie studierte. Nach seiner Rückkehr nach Südafrika im Jahre 2001 widmete er sich in seinem fotografischen Schaffen insbesondere dem Leben der Menschen in Südafrika und auf dem afrikanischen Kontinent. Im Jahre 2013 kam der Künstler bei einem tragischen Autounfall ums Leben. Die Ausstellung ist seinem Andenken gewidmet.
„Ich bin ein Geschichtenerzähler. Ich wähle nicht so sehr Themen aus, um sie zu fotografieren, sondern Menschen, und erzähle ihre Geschichten. Themen usw. ergeben sich aus ihren Geschichten, oder was auch immer erzählt werden soll, wird erzählt.“ (Pierre Crocquet)
Pinky Promise, Hatje Cantz, ISBN 978-3-7757-3173-7
Biografie
Pierre wurde 1971 in Kapstadt geboren und wuchs in Klerksdorp, einer Bergbaustadt westlich von Johannesburg, auf. Er folgte pflichtbewusst dem Wunsch seiner Eltern und absolvierte ein Finanzstudium an der Universität Kapstadt und wurde Wirtschaftsprüfer.
1996 verließ er Südafrika in Richtung London, um eine Stelle bei der damaligen Chase Manhattan Merchant Bank anzutreten. Anfangs dachte Pierre, dies sei ein Traumjob, aber in einem Brief nach Hause schrieb er: "Das Geld, das hier gezahlt wird, ist obszön hoch, aber ich hasse die Arbeit. Ich kann nicht erkennen, dass das, was ich produziere, sinnvoll ist, und ich habe das Gefühl, dass ich nichts Wertvolles hinterlasse."
Er gab das Bankgeschäft auf und studierte Fotografie am London College of Printing. Pierre sehnte sich nach seiner Heimat und kehrte kurz nach der Jahrtausendwende nach Südafrika zurück, wo er sich in seiner Arbeit auf das Leben in Südafrika und auf dem afrikanischen Kontinent konzentrierte. Zwei Bücher, Us (2002) und On Africa Time (2003), wurden veröffentlicht.
Anfang 2002 entdeckte Pierre den südafrikanischen Jazz und verbrachte die nächsten Jahre damit, die Künstler zu fotografieren, die die von ihm geliebten Klänge produzierten. Die Standard Bank Art Gallery wurde auf seine Arbeit aufmerksam, kaufte 25 große Abzüge und veranstaltete 2005 eine Ausstellung mit dem Titel „Sound Check“. Im selben Jahr wurde auch ein von der Bank gesponsertes Buch mit demselben Namen veröffentlicht.
Pierre hat von 2005 bis 2007 viel Zeit in Karatara/Westkap verbracht. Karatara ist eine winzige Siedlung am Rande des Knysna-Waldes. Ursprünglich gegründet, um Forstarbeiter zu beherbergen, ist die Bevölkerung mit dem Niedergang der Industrie geschrumpft. Diejenigen, die geblieben sind, scheinen irgendwie in der Zeit verloren, Teil einer vergessenen Ära zu sein. Die Bewohner waren anfangs misstrauisch, und es dauerte eine Weile, bis sie sich fotografieren ließen. Seine Porträts aus dieser Zeit sind mitfühlend, einfühlsam und fesselnd. Die Ausstellung der Karatara-Arbeiten wurden unter dem Titel Enter Exit unter anderem in den USA, im Pretoria Art Museum, Sasol Art Gallery University Stellenbosch, Galerie Seippel, Moba Art Gallery Brussels mit Erfolg ausgestellt. Zu der Ausstellung erschien das gleichnamige Buch im HatjeCantz Verlag.
Im Jahr 2009 begann Pierre mit der Arbeit an seinem letzten Werk, dem preisgekrönten Pinky Promise. Die Arbeit dokumentierte fotografisch die persönlichen Geschichten von drei Pädophilen und fünf Opfern sexuellen Missbrauchs in der Kindheit.
Das Buch Pinky Promise erschien 2011 in Deutschland im HatjeCantz Verlag und in Südafrika im Fourthwall Book. Die gleichnamige Ausstellung war in der Johannesburg Art Gallery (2011/2012), Seippel Gallery Johannesburg (2011/2012), Galerie Seippel Köln, Stadtmuseum Tübingen (2013) zu sehen. Die Ausstellung wurde von der Kritik sehr gelobt und das Buch kam in die engere Auswahl für den Alan-Paton-Preis.
Die jahrelange Arbeit an einem so intensiven Projekt ließ Pierre kreativ ausbrennen. Im November 2012 begann er eine sechsmonatige Klausur in einem abgelegenen buddhistischen Zentrum. Er meditierte 14 Stunden am Tag, aß sehr spärlich und entschied sich in den letzten Monaten dafür, zu schweigen. Zwei Wochen vor dem Ende des Retreats begann Pierre, Anzeichen einer psychischen Störung und schwerer Paranoia zu zeigen.
In der Nacht zum 1. Mai 2013 verließ er den Ort, nur mit einer kurzen Hose bekleidet, und machte sich auf den Weg in die nahe gelegene Stadt Groot Marico. Er war zu Fuß auf der Autobahn unterwegs, als er am 2. Mai um 2 Uhr morgens im Alter von 42 Jahren bei einem Unfall mit Fahrerflucht getötet wurde.